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Interview mit unserer KI-Expertin Dr. Olena Linnyk

27. Juli 2021 | 4 Minuten Lesezeit

„Wir müssen die Entwicklung einer menschenzentrierten KI fördern“, sagt Physikerin Dr. Olena Linnyk – bei milch & zucker verantwortlich für die KI-Entwicklung. Hier im Interview spricht sie über ihre Beweggründe für menschenzentrierte KI sowie den Beitrag am Buch „Künstliche Intelligenz in der Anwendung“ und gibt einige Ausblicke in die Entwicklung von KI-gestützten Recruiting-Lösungen.

 

WER BIST DU?

Ich bin Olena, 42 Jahre alt, stamme ursprünglich aus der Ukraine, bin Physikerin und leite das Team für maschinelles Lernen bei milch & zucker. Daneben bin ich leidenschaftliche Mutter, Privatdozentin an der Universität Gießen und Forscherin am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS).

Hier bei milch & zucker beschäftigen wir uns natürlich recht intensiv mit Themen wie Natural Language Processing, Vorhersagen und Mustererkennung aus unvollständigen und verrauschten Daten.

Echte Daten aus dem realen Leben sind für Naturwissenschaftler:innen so wunderbar unperfekt.

Letzteres ist auch seit Jahren der Schwerpunkt meiner Forschung. Die Sprache der Daten hat mich immer fasziniert. Schon als Kind. Mathematik war und ist für mich allgegenwärtig. Echte Daten aus dem realen Leben sind für Naturwissenschaftler:innen so wunderbar unperfekt.

WAS BEDEUTET KI FÜR DICH?

Ich habe natürlich schon unterschiedlichste Definitionen gelesen. Man könnte sagen, dass KI der Überbegriff ist für alle Algorithmen, die menschliches Denken nachahmen. Und maschinelles Lernen zählt dazu. KI als Begriff existiert übrigens bereits seit den fünfziger Jahren.

Aber das, was damals unter KI verstanden wurde, waren nur ganz viele „If – then – if“-Statements. Also traditionelle, regelbasierte Algorithmen. Genauso regelbasiert wie die allerersten Chatbots oder auch die Urform der Schachspiel-Automata. Echtes maschinelles Lernen kam viel später erst hinzu.

Aus Erfahrung lernen zu können ist für mich persönlich die eigentliche Definition von „Intelligenz“. Das, was wir heute als KI bezeichnen, sind eher tiefe, künstliche neuronale Netze, die selbst lernen – also Deep Learning.

Interessant ist, dass die ersten dieser Netze auch erst mal kein Teil von maschinellem Lernen waren, sondern lediglich hart in die Hardware einkodiert wurden. Also weder veränderbar noch wirklich lernfähig waren.

Der größte Vorteil einer neuronalen Architektur liegt aber in der Möglichkeit, sehr effektiv zu lernen und flexibel nicht-lineare Funktionen approximieren zu können. Und als dann noch ein paar mathematische Tricks und eine neue Computergeneration dazukamen, war Deep Learning, so wie wir es derzeit verstehen, erst wirklich praktisch anwendbar.

WAS TREIBT DICH AN IN DEINER FORSCHUNG?

Einerseits denke ich, dass KI aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist. Dabei wird das Potenzial von KI-basierten Tools noch lange nicht voll genutzt. Das liegt leider auch daran, dass es einfach noch zu wenige Fachkräfte auf diesem Gebiet gibt – zumindest hier in Deutschland.

Zum anderen fehlt das Vertrauen der Nutzer:innen in KI, was wiederum daran liegt, dass KI-Anwendungen meist intransparent sind und von KI getroffene Entscheidungen somit schwer nachzuvollziehen sind.

KI-Lösungen wirken mächtig und komplex. Als Nutzer:in entsteht der Eindruck, man müsse mindestens lineare Algebra und Statistik verstehen, um ein KI-Tool anwenden zu können. Und was man selber nicht versteht, wird weder akzeptiert noch anderen weiterempfohlen. Das hindert den Fortschritt und den Wissenstransfer aus der Wissenschaft in das alltägliche Leben.

Als Wissenschaftlerin jedoch habe ich gesehen, welche Potenziale die Anwendung von Deep Learning haben kann, wenn es mit Bedacht und Kreativität angewandt wird. Und gestützt auf meine eigenen Forschungsergebnisse und Break-throughs anderer Länder war ich überzeugt, dass KI unser Leben zum Besseren verändern kann.

Bis vor Kurzem stotterten aber die KI-Forschung und KI-Anwendung hier in Deutschland und in der EU. Darum habe ich beschlossen, mein Wissen über KI durch meine Lehre zu verbreiten, an vertrauenswürdigen KI-Lösungen zu forschen und vor allem, innovative KI-gestützte Digitalisierungslösungen effektiver, gerechter und moderner zu gestalten.

Genau das kann ich als Teil der milch & zucker Familie tun. Gemeinsam mit meinem Team wollen wir Recruiting-Lösungen entwickeln, die das Leben für Recruiter:innen und Bewerber:innen gleichermaßen ein Stück besser machen.

WIE KAM ES ZU DEM BUCHBEITRAG?

Ich habe im Lauf der Jahre an mehreren Forschungsprojekten mitgearbeitet, aber unser zweijähriges CATS-Projekt (Chatbots in Applicant Tracking Systems), in Zusammenarbeit mit der Hochschule Wiesbaden, war eines der interessantesten. Darin ging es um den Einsatz von Chatbots in den unterschiedlichen Phasen des Bewerbungsprozesses sowie um die Integration von Chatbots in Bewerbermanagement-Systeme.

Übergeordnetes Ziel war ein Recruiting-Chatbot-Framework im Sinne eines flexibel rekonfigurierbaren Chatbot-Werkzeugkastens. Anhand standardisierter Schnittstellen integrierbar in ein Bewerbermanagement-System und einsetzbar vor, während und nach der Bewerbung. Im Gegensatz zu bestehenden Einzellösungen soll der Chatbot einen natürlicheren Gesprächsablauf sowie umfassendere Kontextualisierung ermöglichen.

Die Forschungsarbeit beinhaltete nicht nur technische, sondern auch soziale Aspekte der KI. So wie die Akzeptanz, das Wesen des Verstehens, Messung der Dialogqualität und sogar Fragen der Bias und Diversität.

Wir sind unterschiedlichste Kooperationen eingegangen, haben diverse Paper zu neuen Forschungsfragen publiziert und als Spin-offs mehrere nützliche Produkt-Prototypen entwickelt. Der Buchbeitrag ist aus meiner Sicht noch einmal ein Sahnehäubchen, weil wir unsere Erkenntnisse aus dem gesamten Projekt sehr ausführlich und in einem größeren Gesamtkontext vorstellen können.

WO SIEHST DU AKTUELLE EINSATZBEREICHE VON KI IM RECRUITING?

Na ja, durch die immer besser werdenden Methoden der Automatisierung und des maschinellen Lernens ergeben sich schon wirklich sinnvolle Möglichkeiten zur Integration von KI in Recruiting-Prozesse. Am sinnvollsten unterstützt eine KI aktuell administrative Tätigkeiten, die sich oft wiederholen und die thematisch eng abgegrenzt sind.

Wie zuvor beschrieben, denke ich, dass Chatbots schon sehr bald als persönliche Assistenten bei vielen Fragen rund um die tägliche Arbeit Antworten liefern werden, Rechercheaufgaben übernehmen können und vollkommen natürlich auf weiterführende Infos hinweisen. Wir sind da im Haus auf einem sehr vielversprechenden Weg.

Augmented-Writing-Systeme helfen bereits heute dabei, Anforderungen in Stellenanzeigen zielgruppengerecht, genderneutral und auf das Wesentliche reduziert zu formulieren. Auch hier konnten wir mit BetterAds bereits ein gut funktionierendes und permanent weiterlernendes Produkt auf den Markt bringen.

Und KI unterstützt natürlich schon längst die Kategorisierung und Klassifizierung von Stellenanzeigen für Jobbörsen. Genauso, wie KI-gestütztes CV Parsing – also das automatische Auslesen von Bewerbungsunterlagen – Bewerber:innen schon heute dabei unterstützt, Daten einfach und schnell in Onlinebewerbungen zu übertragen.

Ein ziemlich weites Feld hingegen ist das effiziente und faire Screening von Lebensläufen. Das ist nach Aussage von über 50 % aller Führungskräfte mit der schwierigste Teil der Personalbeschaffung, da die richtigen Kandidat:innen aus einem Bewerberpool identifiziert werden müssen, der manchmal Tausende Bewerbungen umfassen kann.

Aber bei aller Euphorie und Arbeitserleichterung ist z. B. die Vorauswahl von Bewerbungen oder die Auswertung von Videos allein nur durch Künstliche Intelligenz allerdings sehr kritisch.

 

Bitte keine ‚Personalauswahl by algorithm‘.

Es geht darum, vertrauenswürdige KI zu entwickeln.

 

Die möglichen Verzerrungen durch potenziell fehlinterpretierte Trainingsdaten und damit die Gefahr der Diskriminierung von Bewerber:innen sind derzeit einfach noch zu groß. Denn man muss sich die Frage stellen: Wie beurteilt eigentlich die KI?

Durch eben diese fehlende Transparenz, wie eine Beurteilung durch eine KI überhaupt zustande kommt, begeben sich Arbeitgeber:innen aktuell auf ziemlich dünnes Eis. Hier muss in Zukunft vermehrt auf die Entwicklung transparenter KI-Lösungen gesetzt werden – Stichwort Trustworthy AI.

Auch die gezielte Platzierung von Stellenanzeigen in geeigneten Kanälen in Kombination mit den effektivsten Keywords ist Sache von KI. Beim Targeted Marketing and Sourcing helfen prädiktive Technologien, offene Stellen optimal auszuschreiben. In prädiktiver Technologie steckt sicherlich viel Potenzial, um Recruiting-Budgets effektiv zu nutzen, da durch gezielte Ausspielung die richtige Zielgruppe angesprochen wird.

Aber die gezielte Ausspielung von Stellenanzeigen birgt gleichzeitig die große Gefahr von Diskriminierung und Verzerrung. Denn smarte Marketingsysteme optimieren das Budget, indem sie die Stellenanzeigen nur vorbestimmten Gruppen von Kandidat:innen ausspielen.

Dadurch können automatische Systeme die Stellenanzeigen in einer Art und Weise schalten, die geschlechts- und ethnienbezogene Stereotypen verstärken. Selbst wenn Unternehmen dies gar nicht beabsichtigen.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Recommendation Engines beispielsweise Stellenanzeigen für besser dotierte Jobs unverhältnismäßig oft Männern anbieten. Oder dass Jobs im Niedriglohn- Niveau eher nur Menschen mit Migrationshintergrund zu sehen bekommen.

WOHIN GEHT DIE REISE?

Aus meiner Sicht gibt es drei große Themenschwerpunkte: Erstens die Durchdringung des HR-Bereichs mit KI. Denn laut einer CareerBuilder-Umfrage gaben rund 55 % der Personalmanager: innen an, dass Künstliche Intelligenz in den nächsten fünf Jahren ein fester Bestandteil ihrer Arbeit sein wird.

Zweitens bessere Systeme für die immer größer werdenden Datenmengen. Analysemethoden aus den Bereichen Machine und Deep Learning nutzen immer größere Potenziale von vorhandenen Datenmengen, um noch wertvollere Erkenntnisse zu generieren und Geschäftsprozesse so zu optimieren und zu verbessern.

Drittens die Entwicklung von vertrauenswürdiger KI. Denn Künstliche Intelligenz ist im Grunde erst einmal recht gut für die Beseitigung von Voreingenommenheit bei der Personalauswahl geeignet. Ob KI die Voreingenommenheit im Einstellungsprozess verhindert oder verstärkt, liegt an uns selbst.

So stellt die EU, als Teil ihrer auf den Menschen ausgerichteten KI-Strategie, ethische Leitlinien für die Nutzung von KI bereit (Trustworthy AI) und fördert die Entwicklung „robuster, transparenter und erklärbarer“ KI-Systeme.

Die Übernahme von vertrauenswürdiger KI ist jedoch eine echte Herausforderung, da es aktuell an Methoden und Werkzeugen zur Bewertung, Verbesserung und Überprüfung fehlt.

Aus diesem Grund wird milch & zucker gemeinsam mit europäischen Hochschulpartnern die Entwicklung durch wissenschaftliche Evaluierung der Transparenz, Robustheit und Sicherheit von vertrauenswürdigen KI-Lösungen für den Recruiting-Bereich weiter vorantreiben. So, wie diese auch von der europäischen Strategie für menschenzentrierte KI gefördert werden.

Ich freue mich auf das, was kommt. Es wird eine spannende Zeit – und das nicht nur aus Sicht einer leidenschaftlichen Wissenschaftlerin.

Möchten Sie mehr erfahren?

Den kompletten Beitrag von Olena Linnyk, Stephan Böhm, Wolfgang Jäger und Ingolf Teetz zum Thema „KI im Recruiting: Anwendungsfelder, Entwicklungsstand und Anwendungsbeispiele aus der Praxis“ finden Sie im Buch „Künstliche Intelligenz in der Anwendung“ aus der Reihe Angewandte Wirtschaftsinformatik, herausgegeben von Thomas Barton und Christian Müller, Springer Verlag, ISBN: 978-3-658-30935-0.

 

Bildnachweise:
Tilman Lochmüller; Hochschule RheinMain; shutterstock; milch & zucker AG;

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